Grundwissen Grammatik

Kleine deutsche Schulgrammatik

Mittelhochdeutsch zum Nachschlagen und Lernen

ACHTUNG: Die Steuerelemente oben beziehen sich auf die neuhochdeutsche Schulgrammatik!


Schlagwörter, bitte Anfangsbuchstaben eingeben!
Mit­tel­hoch­deut­sche Ver­ben: Über­blick
Test zur Motivation 😉: Es ist ein Ros entsprungen … Dieses Weihnachtslied aus dem Speyerer Gesangbuch, erstmals gedruckt in Köln 1599, weist mehrere Besonderheiten auf, die man vom Mittelhochdeutschen her erklären kann.

Es iſt ein Ros entſprungen /
auß einer wurtzel zart /
Als vns die alten ſungen /
auß Jeſſe kam die art /
vn̄ hat ein bluͤmlein bracht /
mitten im kalten winter /
wol zu der halben nacht.

Worin un­ter­schei­det sich die­ser Text von einem neu­hoch­deut­schen? Wie kann man Auf­fäl­lig­kei­ten des Tex­tes mit Kennt­nis­sen des Mit­tel­hoch­deut­schen er­klä­ren?

Lösung Dieses Weihnachtslied weist gleich meh­re­re Be­son­der­hei­ten auf, die sich mit Kennt­nis­sen des Mit­tel­hoch­deut­schen er­klä­ren lassen. Die wich­tigs­ten Auf­fäl­lig­kei­ten wer­den hier vor­ge­stellt.

Grundsätzlich fällt auf, dass der größte Teil des Textes in Kleinbuchstaben gesetzt ist – das war Standard im Mittel­hoch­deut­schen. Außerdem wird an- und inlautend ‚ſ’ - also das Schaft-S- verwendet - auch das ist in Handschriften und frühen Drucken üblich.
Der Ausdruck ‚ein Ros’ entspricht dem mhd. Sprachgebrauch, nach dem der Nominativ Singular von Feminina oberdeutsch fast immer ein lautet, eine kommt erst später auf. Auch im Mitteldeutschen mit Ausnahme des Mittelfränkischen liegt der Anteil von eine zwischen unter 10% bis ca. 20%. .
Das Wort ‚entspringen’ wird heute so nicht mehr gebraucht, aber für das Mit­tel­hoch­deut­sche gibt es so viele Belege, dass im Mit­tel­hoch­deut­schen Wör­ter­buch von Benecke, Müller, Zarncke extra darauf hingewiesen wird, dass ‚entspringen’ bei Blumen und Pflanzen aufsprießen, hervorwachsen bedeutet. .
Dass das attributive Adjektiv ‚zart’ dem Bezugswort ‚wurtzel’ nachgestellt wird, erscheint vielen als typisch für das Mit­tel­hoch­deut­sche. Die Vielzahl der Belege nachgestellter unflektierter Adjektive kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass die Beispiele aus Versdichtungen stammen .
Interessant ist die Verbform ‚ſungen’, die aber vollkommen dem mhd. Standard für ein Verb aus der Ablautreihe IIIa entspricht – 3. Person Plural Präteritum Indikativ . Eine Angleichung der Pluralformen an den Vokal des Singulars fand erst später statt.
Im vierten Vers fallen die Wörter ‚vn̄ ’und ‚bluͤmlein’ auf: Dass statt ‚u’ häufig ‚v’ geschrieben wird, entspricht einer gängigen Praxis des Mit­tel­hoch­deut­schen.
Der Nasalstrich steht bei vn̄ für ein folgendes ‚d’, also bedeutete vn̄ und.
Auch die Umlautkennzeichnung bei – ‚u’ mit dar­über­ge­schrie­be­nem kleinen ‚e’ - in ‚bluͤmlein’ ist typisch für die mhd. Schreibweise . Daraus hat sich unser ‚ü’ entwickelt.
Schließlich sticht noch die Form ‚bracht’ ins Auge: Die zu erwartende ‚ge-’ Vorsilbe für ein Partizip II entfällt nicht etwa wegen des Reimes ‚nacht’, sondern entspricht vollkommen den mhd. Vorschriften, dass nämlich bei manchen Verben, wie z. B. auch bei ‚komen’, das ‚ge-’ beim Partizip II unterbleibt: Bei bracht handelt sich also um die korrekte Form zum Infinitiv ‚bringen’, für die es keine Alternative gibt, vgl. Mit­tel­hoch­deut­sches Wör­ter­buch von Benecke, Müller, Zarncke .
Man könnte noch weiter auf die Schreibweisen von ‚auß’, ‚wurtzel’ und ‚wol’ eingehen.


Mehr zum Lied auf wikipedia
Zum Schaft-S bzw. Lang-s ‚ſ’, siehe wikipedia
Aussage nach Klein, Thomas; Solms, Hans-Joachim; Wegera, Klaus-Peter (Hrsg.): Mit­tel­hoch­deut­sche Grammatik. Teil II: Flexionsmorphologie. 2 Bände. Berlin; Boston, 2018, Seite 465
Siehe dazu „entspringe, stv.“, Mit­tel­hoch­deut­sches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=S05306>, abgerufen am 05.12.2022.
"Im Mit­tel­hoch­deut­schen ist die Nachstellung eines einfachen oder nur mit Gradbestimmung versehenen Adjektivums schon in der Umgangssprache und danach in der Prosa unüblich geworden. Dagegen im Volksepos hat sich die Nachstellung des sogenannten Epitheton ornans behauptet, vornehmlich im Reim." Paul, Hermann: Deutsche Grammatik, Bd. III, Teil IV Syntax, Halle 1919.
Siehe Formen von ‚singen’ auf dieser Website
Zu Fragen der Kodierung siehe Referenzkorpus Mit­tel­hoch­deutsch
Siehe dazu „BRINGE“, Mit­tel­hoch­deut­sches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=B02028>, abgerufen am 05.12.2022.

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Tipp: Unter dem Menüpunkt "i" kann man ein Schlagwortregister aufrufen, das Begriffserklärungen in knapper Form liefert.

Wer an den häufigsten Verben im Mittelhochdeutschen interessiert ist, ruft die Seite "Statistik" auf.


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